Die vielen Irrtümer der deutschen Russland-Politik – Seite 1

Mit der Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt und dem Ende von Dmitri Medwedews Modernisierungskurs hat in Berlins Verhältnis zu Moskau Ernüchterung eingesetzt. Doch unabhängig von den Führungsfragen waren und sind die Vorstellungen der deutschen Außenpolitik über die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen Russlands falsch – und haben zu entsprechend irreführenden Erwartungen geführt. Im Folgenden die wichtigsten politischen Grundannahmen über Russland und ihre Auswirkungen für die Beziehungen zu Moskau.

Eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland ist ideal, um Moskau bei seinem Reformprozess zu unterstützen.

Falsch. Das System Putin ist resistent gegenüber Modernisierungsbestrebungen. Während die deutsche Seite über wirtschaftliche Zusammenarbeit auch eine politische Modernisierung anstoßen möchte, sind die russischen Eliten nur an Technologietransfer interessiert. Deutschland bemüht sich um mehr Rechtsstaatlichkeit – Russlands Eliten möchten genau das verhindern. Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit sind Prinzipien des Systems Putin. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass sich die Eliten ungestraft bereichern können.

In den siebziger und achtziger Jahren hat die deutsche Politik des Wandels durch Annäherung zur Vertrauensbildung mit der Sowjetunion beigetragen. Heute dient sie zur Legitimierung des autoritären Rent-seeking-Kapitalismus. Die russischen Eliten verdienen prächtig mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft und verfolgen aufgrund fehlender Rechtsstaatlichkeit kurzfristige und nicht langfristige Ziele. Deshalb existiert bis auf die Ostsee-Pipeline auch kein weiteres sichtbares Großprojekt der Modernisierungspartnerschaft.

Die deutsche Passion, Russland nach innen zu demokratisieren und in Europa zu integrieren, basiert auf naiven Annahmen. Mit Begeisterung haben Deutschlands Entscheidungsträger 2008 die Reformankündigungen des neuen Präsidenten Dmitri Medwedew begrüßt. Dass das Tandem Putin-Medwedew integraler Bestandteil des Systems Putin war, wurde ignoriert. Die Rochade der beiden zeigt, dass Russlands Elite nicht ernsthaft modernisieren will.

Ohne Deutschland kann es keine funktionierende europäische Russland-Politik geben.

Stimmt. Die Bundesrepublik war die treibende Kraft bei der EU-Osterweiterung. Sie verfügt über enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland. In Russland gilt Berlin als wichtigster Partner in der EU. Die EU-Mitgliedstaaten sind auf die zentrale Rolle Berlins in den Beziehungen zu Russland angewiesen, da die russische Führung nur mit Deutschland zu Kompromissen bewegt werden kann. Doch genau dieses Engagement lässt die Bundesregierung im Moment vermissen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel verzichtet zwar nicht auf Kritik. Doch ihre Nüchternheit gegenüber Putin kann – nach Jahren der Männerfreundschaften – nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung kein eigenes Konzept für die Russland-Politik entwickelt hat. Russland und die postsowjetischen Staaten sind keine Priorität für die aktuelle Bundesregierung – und das ist nicht gut für die EU. Ohne umfassende deutsche Unterstützung wird die EU aus der Sackgasse ihrer Beziehungen zu Russland nicht herauskommen.

Russland ist heute so offen wie nie zuvor

Russland-Politik sollte nicht auf Kritik fixiert sein, denn das könnte das Land isolieren.

Falsch. Für eine glaubwürdige Russland-Politik mit dem Ziel einer Demokratisierung und Modernisierung bedarf es eines Dialogs, der auf Kritik nicht verzichtet. Russlands Eliten sind europäische Eliten. Sie besitzen Immobilien in der EU und schicken ihre Kinder auf europäische Hochschulen. Russische Staatsunternehmen und Oligarchen investieren in Europa. 60 Prozent der Exporte von Gazprom gehen in die EU. Die Abhängigkeit Russlands vom europäischen Markt ist viel größer als unsere vom russischen Markt.

Der einzige Weg zu einer Modernisierung Russlands führt über Europa. Dafür ist jedoch auch Kritik am bestehenden Politik- und Wirtschaftssystem in Russland nötig – an der fehlenden Rechtsstaatlichkeit, an Korruption und der Dominanz des Staates in der Wirtschaft. Wenn Deutschland ein echtes Interesse an einer Modernisierung Russlands hat, sollte es keine "russischen Regeln" für eine Kooperation akzeptieren – weder in der Zivilgesellschaft noch in der Wirtschaft. Dabei geht es auch um die Glaubwürdigkeit deutscher Politik gegenüber der russischen Gesellschaft.

Die Russland-Politik der Deutschen und der EU sollte sich auf pragmatische Wirtschaftsbeziehungen beschränken

Das reicht nicht. Die Frustration in der deutschen Politik über die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt basiert auf falschen Erwartungen. Hegte man unter Dmitri Medwedew große Hoffnungen auf einen Wandel, wird Putin mit wachsenden autoritären Tendenzen verbunden. Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass unter Putin der russische Staat an Stabilität gewonnen hat und das Wohlstandsniveau enorm angestiegen ist. Deshalb ist Putin noch immer mit Abstand der beliebteste Politiker Russlands. Gleichzeitig befindet sich die Bevölkerung in einem dynamischen Wandlungsprozess, mit dem die politischen Entscheidungsträger nicht Schritt halten können. Die wachsende urbane Mittelschicht fordert Modernisierung statt Stagnation.

Dass diese russische Führung diese Entwicklungen ignoriert, führt zu wachsender gesellschaftlicher Polarisierung. Das Regime reagiert mit Abschreckung wie beim Pussy-Riot-Prozess, Zugeständnissen wie die erleichterte Zulassung von Parteien und verschärfter Gesetzgebung gegenüber zivilgesellschaftlichen Institutionen. Mit dieser Politik entfremdet sich Putin immer weiter vom progressiven Teil der Bevölkerung und untergräbt die Stabilität des Systems.

Russland ist heute so offen wie noch nie in seiner Geschichte, die Verwestlichung und Informiertheit der Bevölkerung ist enorm gestiegen. Sich in einer solchen Phase des Wandels frustriert von Russland abzuwenden, verkennt die Bedeutung dieser Prozesse. Nur über einen langfristigen Dialog mit der russischen Gesellschaft und den Eliten kann Deutschland die Wandlungsprozesse in Russland unterstützen. Das Scheitern westlicher Politik in der arabischen Welt zeigt, dass weder die einseitige Fixierung auf Eliten noch auf scheinbar alternative Oppositionskräfte Ansätze für Demokratisierung sind.