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Syriens Kurden melden befreite Städte

Kurdische Siedlungsgebiete Kurdische Siedlungsgebiete
Die Orte Afrin und Kobani im Norden von Aleppo sowie Amude und Deirik weit im Osten des Landes sollen weitgehend unter Kontrolle der PYD sein, des syrischen Arms der türkischen Kur...dischen Arbeiterpartei (PKK)
Quelle: welt infografik/welt infografik
Assads Armee hat sich offenbar aus dem Norden des Landes kampflos zurückgezogen. Dort verwaltet sich die Minderheit der Kurden nun selbst und strebt nach Autonomie. Das ruft die Türkei auf den Plan.

Inmitten der Schlagzeilen über die blutigen Kämpfe in den Großstädten Damaskus und Aleppo ist ein Aspekt beinahe untergegangen: der Rückzug der syrischen Streitkräfte aus mehreren Kurdengebieten an der nördlichen Grenze des Landes.

Die Orte Afrin und Kobani im Norden von Aleppo sowie Amude und Deirik weit im Osten des Landes sollen nun weitgehend unter der Kontrolle der PYD stehen, des syrischen Arms der türkischen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). „Die Gegend um Kobani herum ist jetzt befreit“, sagt Sarhat, ein ortsansässiger kurdischer Aktivist. „Wir haben das erreicht, was wir immer wollten: Wir regieren uns selbst. Unsere Leute sind in den Polizeistationen, wir haben eigene Sicherheitskräfte, die uns gegen Angriffe von innen und außen verteidigen.“

Videoclips im Internet zeigen, wie neuerdings die rot-weiß-grün gestreifte Fahne der Kurden vor den Verwaltungsgebäuden im Wind weht. Jugendliche reißen syrische Nationalflaggen herunter; die Menschen feiern auf der Straße. Auch das Banner der PKK hängt an den Fassaden und Poster des inhaftierten Parteigründers Abdullah Öcalan. Auf öffentlichen Plätzen patrouillieren bewaffnete kurdische Milizionäre.

Türkei könnte tiefer in Konflikt gezogen werden

Kurdische Parteien haben zwar in den vergangenen Tagen bereits die „autonome Region Westkurdistan“ ausgerufen. In Qamishli, einer Kleinstadt in Ostsyrien, soll eine Regionalregierung von Nordsyrien-Kurdistan die Arbeit aufgenommen haben.

Doch die Realität, die sich nach dem Abzug der Streitkräfte ergibt, ist äußerst komplex und widersprüchlich: Eine Vielzahl kurdischer Gruppen ringen um Einfluss. Auch regionale Mächte mischen sich immer stärker in den Konflikt. Die Kurden drohen zwischen die Fronten zu geraten.

Vor allem für die Türkei wächst nun das Risiko, noch tiefer in den syrischen Konflikt gezogen zu werden. Seit Monaten bereits lässt die Türkei es zu, dass die Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) den Süden des Landes als Rückzugsgebiet nutzen.

Doch nun zeigt sich zunehmend, wie gefährlich der Aufstand nebenan werden kann. Entsprechend nervös reagierte Ankara auf die jüngsten Entwicklungen in den Kurdengebieten. Am Mittwoch wurden sämtliche Grenzübergänge für den Frachtverkehr geschlossen; die Regierung verlegte zusätzliche Truppen in die Grenzregion.

Erdogan drohte mit militärischem Angriff

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan drohte sogar mit militärischen Angriffen auf PYD-Stellungen in Nordsyrien. Denn Ankara muss befürchten, dass sich neben dem halb autonomen Nordirak nun an der südlichen Grenze eine zweite unabhängige kurdische Enklave bildet.

Dies könnte auch kurdischen Separatisten in der Türkei Auftrieb geben und damit den Zusammenhalt des Zentralstaates gefährden. „Wir werden nicht zulassen, dass eine Terrorgruppe sich in Nordsyrien und der Türkei eine Basis einrichtet“, sagte Erdogan. „Wenn Schritte gegen diese Terrorgruppe eingeleitet werden müssen, dann werden wir diese Schritte definitiv einleiten.“

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Indes versucht die Regionalregierung im Nordirak, ihren Einfluss in Syrien auszuweiten und sich als Schutzmacht der dortigen Kurden zu profilieren: Massud Barsani, der Präsident der Region, bestätigte vor wenigen Tagen im arabischen Fernsehsender al-Dschasira, dass im Nordirak kurdische Kämpfer aus Syrien trainiert worden sind.

Die militärische Ausbildung soll helfen, „ein Sicherheitsvakuum in Nordsyrien zu verhindern“. Bislang sollen allenfalls einzelne dieser Peschmerga-Kämpfer zurückgekehrt sein, die meisten hielten sich noch auf der irakischen Seite der Grenze auf, wie Aktivisten in verschiedenen Städten sagen. Unklar bleibt einstweilen, wem ihre Loyalität gelten wird.

Warum hat Syrien Gebiete aufgegeben?

Denn Barsani steht dem Kurdischen Nationalrat nahe, einer Koalition aus mehr als einem Dutzend kleiner Parteien, während die PYD enge Verbindungen zur PKK in der Türkei pflegt. Derzeit ist die PYD nach Einschätzung verschiedener kurdischer Quellen die militärisch weitaus stärkste Gruppe in der Region. Die im Irak trainierten Peschmerga aber könnten das Kräfteverhältnis in Nordsyrien ändern.

Wie genau es zum Abzug der staatlichen Sicherheitskräfte in Nordsyrien gekommen ist, ist umstritten. Offenbar hat das Regime in Damaskus den Kurden die Gebiete weitgehend kampflos überlassen. Zudem sind ausschließlich Ortschaften betroffen, die unter Kontrolle der PYD stehen. In den Städten Qamishli und Hassakeh dagegen sollen die Sicherheitskräfte noch vor Ort sein.

Die Frage ist also, warum die Streitkräfte des Regimes dieser Gebiete aufgegeben haben. „Das hat mit den Kämpfen in Damaskus und Aleppo zu tun“, sagt Barsan Iso, ein in der Türkei ansässiges Mitglied des Volksrats von Westkurdistan, einem Bündnis verschiedener Parteien, dem auch die PYD angehört. „Das Regime brauchte die Truppen, um die beiden Großstädte halten zu können.

Afrin, Kobani, Deirik und Amude haben sie zurückgelassen, weil es sehr kleine Orte sind, die strategisch keine wichtige Bedeutung haben.“ Die Armee und die Sicherheitskräfte hätten ihre Positionen daher geräumt, sagt er, nur vereinzelt sei es zu kurzen Feuergefechten gekommen.

Gerüchte über Folterungen

Dagegen berichtet das Magazin „Focus“, verschiedene Kurdenparteien, darunter die PYD, hätten sich mit Präsident Assad auf die Gründung eines eigenen Staates in Nordsyrien verständigt.

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Zudem werfen arabische wie auch einige kurdische Aktivisten und Oppositionelle der PYD vor, mit dem Assad-Regime zu kooperieren, um ihre eigene Macht abzusichern: Seit Monaten kommen immer wieder Berichte auf, dass die Führung in Damaskus die Repression in den Kurdengebieten quasi an die PYD ausgelagert hat. „Es gab junge Aktivisten, die hier Proteste gegen das Regime organisiert haben“, sagt ein Menschenrechtler in Afrin, der sich Khomeird Hawari nennt. „Doch die sind von der PYD angegriffen worden. Sie haben in die Luft geschossen, Demonstranten verprügelt und einige von ihnen verschleppt.“

Einzelne Dissidenten sollen sogar gefoltert und ermordet worden sein. Andere kurdische Quellen bestreiten derweil, dass die PYD Proteste niederschlagen lässt.

Was derzeit in den kurdischen Gebieten geschieht, lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen. Formell gehören alle bewaffneten Einheiten der neu gegründeten Union zum Schutz der Bevölkerung an, die sowohl dem Kurdischen Nationalrat als auch dem Volksrat von Westkurdistan unterstellt sind. Zudem haben der Nationalrat und die PYD Mitte Juli in Erbil ein Abkommen geschlossen.

Selbstverwaltung gelingt offenbar gut

Doch viele Beobachter glauben, dass die Einigkeit nur auf dem Papier existiert, während die PYD alle anderen Parteien an den Rand gedrängt hat. Allerdings geben selbst die ortsansässigen PYD-Gegner zu, dass der Gruppierung die Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten bislang gut gelingt: Der Alltag in den Behörden soll weiter geordnet ablaufen. In den Schulen wird die kurdische Sprache unterrichtet; auch neue kurdische Kulturzentren haben eröffnet.

Zugleich hat die PYD bislang verhindert, dass die Rebellen der Freien Syrischen Armee in ihre Gebiete eindringen. Offenbar wollen die Kurden vermeiden, dass die FSA den Bürgerkrieg in ihre Region trägt.

Außerdem stehen viele von ihnen den Rebellen zutiefst misstrauisch gegenüber, da sie nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch das Regime fürchten, dass ihre Interessen womöglich auch in einem künftigen Syrien nicht berücksichtigt werden.

Daher haben die Kurden bisher während der Revolte auch keine tragende Rolle gespielt; auch vom Syrischen Nationalrat fühlen sie sich nicht vertreten. „Die FSA hat hier bei uns nichts zu suchen“, sagt Sarhat, der Aktivist in Kobani. „Denn bislang hat uns der Syrische Nationalrat unsere Rechte vorenthalten. Es gibt eine Trennung zwischen uns und dem arabischen Rest des Landes. Deswegen führen wir nun unsere eigene Revolte.“

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