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Politik in Japan: Hoppla, hier kommen die Grünen

Foto: KIM KYUNG-HOON/ REUTERS

Japans Politik nach Fukushima Wir sind das Volk, Herr Premier!

Japan erlebt einen Aufstand der Bürger aller Schichten. Jede Woche gibt es Massenproteste gegen die Politik der Regierung. Selbst eine neue Partei ist aus der Bewegung entstanden - das kommt einem politischen Erdbeben gleich.
Von Heike Sonnberger

Wie die meisten seiner Landsleute hätte sich Masaya Koriyama, 45, nicht vorstellen können, zum japanischen Parlament zu marschieren und dabei ein Banner zu schwenken. Bis zum Super-GAU im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Die Explosionen dort schleuderten nicht nur radioaktive Partikel in die Luft, die weite Landstriche der Präfektur nördlich von Tokio auf Jahre unbewohnbar machten. Sie erschütterten auch das politische System des Landes.

Nach der Katastrophe im März 2011 kündigte Koriyama seinen Job bei einem Lieferdienst für Bio-Lebensmittel - und tat etwas, was in Japan sehr unüblich ist. Er half mit, eine neue Partei zu gründen. Ende Juli konstituierte sich die Midori no To, die Grüne Partei. Koriyama ist einer ihrer Sprecher. "Wir wollen den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie und wir wollen, dass die Menschen in Fukushima mehr Unterstützung bekommen", sagt er. "Im Moment möchten wir uns auf diese beiden Ziele konzentrieren."

Immer mehr Japaner tun ihren politischen Willen so deutlich kund wie Koriyama. Und das in einem Land, in dem es unhöflich ist, Kollegen oder Bekannte in eine politische Debatte zu verwickeln. "Man könnte ja verschiedener Meinung sein und jemanden vor den Kopf stoßen", sagt der Kommunikationswissenschaftler Raimund Krummeich, der seit mehr als 30 Jahren in Japan lebt und lehrt. "Es gibt hier keine Diskussionskultur."

Fast jeder hat ein AKW in seiner Nachbarschaft

Ebenso wenig wie eine Demonstrationskultur. Seit den Studenten- und Gewerkschaftsunruhen der sechziger Jahre hat Japan keine Massenproteste mehr erlebt. Dass nun schon seit Wochen jeden Freitag Zehntausende Menschen zum Parlament und zum Büro des Regierungschefs in Tokio ziehen und gegen Atomkraft protestieren, ist also kein alltäglicher Anblick. Noch dazu sind es diesmal Japaner aus allen Schichten und in jedem Alter, die gemeinsam marschieren, musizieren und Slogans rufen. Und sie kommen aus dem ganzen Land. Fast jeder hat eins der mehr als 50 Atomkraftwerke in seiner Nachbarschaft.

Kazuhiko Kobayashi, 66, war bei fast allen großen Demos dabei. Der Anti-Atomkraft-Aktivist hat lange als Unternehmensberater in Hamburg gelebt und ist begeistert von der Entschlossenheit der Demonstranten. "Japaner sind leiser als Deutsche, aber ihr Wille ist so deutlich spürbar, das ist ungeheuerlich." Der Politologe Minoru Morita sagt: "Am System der repräsentativen Demokratie in Japan wird sich wohl nichts ändern." Aber im Zusammenspiel des nationalen Parlaments, der Regierung und den Präfektur- und Kommunalverwaltungen werde das Volk mehr Einfluss gewinnen.

Ein gutes Jahr hat es gedauert, bis die Menschenmassen so angeschwollen sind, dass sie Straßen und Parks füllen. "Das ging traumhaft schnell für dieses Land", sagt Kobayashi. Die meisten Japaner seien zu schüchtern, um ihre Meinung allein zu verkünden und fühlten sich erst in der Menge wohl. Dank sozialen Netzwerken und Twitter hätten nach und nach immer mehr Gleichgesinnte zusammengefunden.

Auch die japanische Presse nimmt die Proteste langsam ernst. "Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Stimmen der Bürger anfangen, die Politik zu beeinflussen", schrieb die Tageszeitung "Asahi Shimbun".  "Wir denken, dass Noda Demonstranten aus allen Altersgruppen für eine Diskussion in sein Büro einladen sollte."

Jeder Kandidat kostet die Grünen mehr als 60.000 Euro

Das wäre eine Sensation. Premierminister Yoshihiko Noda weigerte sich lange, sich mit den Demonstranten zu treffen. Inzwischen hat er eingelenkt und eine baldige Zusammenkunft versprochen, offenbar auf Druck von Parteifreunden. Es könnte das Ende seiner Amtszeit bedeuten: "Er weiß, dass er diesen Dialog niemals gewinnen könnte", sagt Atomkraftgegner Kobayashi. "Er müsste seine Fehler eingestehen und abtreten." Zu lange hat die Regierung propagiert, dass Kernkraftwerke sicher sind. Zu zögerlich hat sie Informationen über den Atomunfall in Fukushima herausgegeben und zu schnell erlaubt, dass die ersten Reaktoren nach der Wartungsphase wieder angefahren wurden.

Japans etablierte Parteien sind ein elitärer Zirkel, den die Meinung des Volkes bisher herzlich wenig gekümmert hat. Ob sich eine Graswurzelbewegung wie die Grünen da Zugang verschaffen kann? Die Hürden sind hoch: Für jeden Kandidaten, den eine Partei ins Rennen um einen Parlamentssitz schickt, muss sie 63.000 Euro hinterlegen. "So will man vermeiden, dass zu viele Bewerber zu den Wahlen antreten", sagt Grünen-Sprecher Koriyama. Und es erleichtert der wohlhabenden Führungsschicht, unter sich zu bleiben.

Doch die Grünen sind entschlossen, ins Ober- und Unterhaus einzuziehen. 14 Kandidaten wollen sie insgesamt aufstellen. Die eineinhalb Millionen Euro, die sie für die Kaution und etwas Wahlkampf brauchen, haben sie noch lange nicht zusammen. Und die Zeit könnte knapp werden: Wenn Nodas Unterstützung in den eigenen Reihen weiter bröckelt, stehen vielleicht schon zum Jahresende die nächsten Unterhauswahlen an.

"Ich kann schwer beurteilen, ob so eine neue Kraft hier eine Chance hat", sagt die deutsche Grünen-Politikerin Bärbel Höhn, die zur Gründungsfeier der Grünen eingeladen war. Doch wenn überhaupt, dann sei jetzt der richtige Zeitpunkt. Die japanischen Grünen haben zwar bisher erst 1000 Mitglieder, doch täglich trudeln Anfragen ein. Und die Partei kann etwas bieten, was viele Bürger inzwischen schmerzlich vermissen: echte Volksvertreter.