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Aussteiger über die Muslimbrüder "Alles-oder-nichts-Mafiosi im religiösen Gewand"

Ägypten ist in Aufruhr. Islamisten und Opposition liefern sich einen erbitterten Streit über die Verfassung. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Muslimbruderschaft. Einer ihrer Ex-Anführer erklärt im Interview mit SPIEGEL ONLINE, warum er die religiöse Bewegung inzwischen für gefährlich hält.
Anhänger von Präsident Mursi und der Muslimbruderschaft: "Langfristig keine Chance"

Anhänger von Präsident Mursi und der Muslimbruderschaft: "Langfristig keine Chance"

Foto: PATRICK BAZ/ AFP

Kairo - Die Muslimbruderschaft gehört zu den wichtigsten Unterstützern des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi. Er war ihr Kandidat. Mursis Gegner verspotten ihn sogar als Marionette dieser islamischen Bewegung. Vor dem Sturz des alten Regimes war die Muslimbruderschaft in Ägypten offiziell verboten. Inzwischen ist sie die am besten organisierte politische Bewegung im Land.

Im aktuellen Verfassungskonflikt spielt die Muslimbruderschaft eine entscheidende Rolle, denn sie hat den von der Opposition kritisierten Entwurf wesentlich formuliert.

Der Rechtsanwalt Tharwat al-Chirbawi gehörte einst dem Führungsgremium der Muslimbruderschaft an. Der 56-Jährige ist ein prominentes Mitglied des einflussreichen Rechtsanwältesyndikats. Inzwischen ist Chirbawi aus dem Führungszirkel der Muslimbruderschaft ausgetreten. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE verurteilt er die mafiösen Machenschaften der Islamistenorganisation.

SPIEGEL: Sie sind der bislang ranghöchste Dissident aus dem inneren Zirkel der Muslimbruderschaft. Wird Präsident Mohammed Mursi einen Bürgerkrieg riskieren?

al-Chirbawi: Er hätte die blutigen Zusammenstöße zwischen den Liberalen und den islamistisch orientierten Demonstranten der letzten Tage verhindern können - er kann auch jetzt noch eingreifen und Blutbäder verhindern, die sich bereits abzeichnen. Er hat aber neues Öl in die Flammen gegossen. Mursi ist zwar dem Namen nach Staatschef des größten Araberstaats, de facto trifft er die meisten seiner Entscheidungen aber nicht allein. Er hat Ratgeber, außerdem ist er dem Bruderschaftsführer Badi zu absolutem Gehorsam verpflichtet wie alle Mitglieder. Natürlich benutzt die von der Bruderschaft gegründete "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" schon mal andere Vorgehensweisen. Doch das Endziel des islamischen Scharia-Staates haben alle gemeinsam.

SPIEGEL: Heißt das, dass die im Westen anfangs als demokratische Alternative gehandelte Bruderschaft den Konflikt ausweiten will - um jeden Preis?

al-Chirbawi: Die Bereitschaft ist prinzipiell da, wenn auch nicht bei jedem einzelnen Mitglied der Bruderschaftsführung. Die Machthaber auf dem Mokattam machen zum dritten Mal in ihrer langen Geschichte immer den gleichen Fehler: Sobald sie politischen Freiraum und Auftrieb verspüren, verlieren sie den Sinn für die Realitäten. Das war so nach der Serie politischer Morde unter König Faruk, nach Gamal Abd al-Nasser Kooperationsbereitschaft und dem Anschlag auf sein Leben sowie nach Anwar al-Sadats Rehabilitierung der Bruderschaft und deren Versuch, ihn nach der Unterschrift unter den Friedensvertrag mit Israel zu isolieren. Es kam sogar schlimmer. Die Bruderschaft will die Macht einfach nicht teilen, und für dieses Ziel sind alle Mittel recht.

SPIEGEL: In Ägypten können sie sich doch auf einen Großteil der Bevölkerung stützen. Schließlich ist Mursi ja gewählt worden.

al-Chirbawi : Wie sauber die Wahlen wirklich waren, weiß niemand so genau. Aber so überwältigend groß ist die Bruderschaft gar nicht, sie hat nicht einmal eine Million Mitglieder - nicht viel bei einem 85-Millionen-Volk. Aber die Mitglieder sind organisiert und auf Knopfdruck einsatz- und abrufbereit.

SPIEGEL: Meinen sie die Milizen?

al-Chirbawi : Vor allem die Milizen, die in verschiedenen entlegenen Landesteilen, manchmal sogar in getarnten "Sportclubs" in den Großstädten trainiert werden. Natürlich hat es auch unter Mubarak Kollaborateure auf höchster Ebene gegeben. Waffen waren nie ein Problem, mit Ausbruch der Revolution in Libyen kamen gewaltige Mengen über die Grenze. Was viele nicht wissen: Die Muslimbruderschaft hat immer ihren "Gihaz sirri", die "Geheimer Apparat" genannte Untergrundorganisation beibehalten, die in den neunziger Jahren von Bruderschaftsführer Aschur straff reorganisiert wurde. Die ist äußerst effizient und skrupellos.

SPIEGEL: Was passiert, wenn die Gegner eines theokratischen Staatswesens auch weiterhin gegen die islamistisch dominierte Verfassung und gegen die pharaonischen Vollmachten Mursis Sturm laufen? Wird noch mehr Blut fließen?

al-Chirbawi : Sicher. Die werden Augen ausstechen und Zungen herausreißen. Die Milizen werden Straßenkämpfe entfachen. Davor schrecken sie nicht zurück.

SPIEGEL: Und die Armee, wird die untätig zuschauen?

al-Chirbawi : Schwer zu beantworten. Denn es gibt einen Deal zwischen der Bruderschaft und der Armeeführung, der besagt, dass die Bruderschaft freie Hand bekommt und ihr die Truppe nicht in den Arm fällt. Doch ich will mich nicht dafür verbürgen, dass die Soldaten und Offiziere sich vor dem ganzen Volk demütigen lassen werden. Aber vielleicht bricht das Unrechtsregime der Bruderschaft und der heterogenen und politisch völlig unerfahrenen Salafisten schon vorher in sich zusammen. Ich war nicht der Erste oder der Letzte, der diesem Verein der machtgierigen Alles-oder-nichts-Mafiosi im religiösen Gewand den Rücken gekehrt hat. Langfristig gebe ich der Muslimbruderschaft sowieso keine Chance.

Das Interview führte Volkhard Windfuhr und Ayman Badr